12. August 2019

Italien wird Europas drückender Schuh

Der italienische Innenminister Matteo Salvini lässt die Koalition platzen und will Regierungschef werden – aber nicht nur. Er fordert pieni poteri, also volle Machtbefugnisse. Das weckt ungute Erinnerungen. Der Letzte, der darüber in Italien verfügte, war Benito Mussolini. In Deutschland hieß das Decreto dei pieni poteri  1933 Ermächtigungsgesetz und setzte jeglicher Form der Kontrolle der Regierung durch die Legislative ein Ende. Genau das will Salvini. Er fordert, seine Wahlversprechen einlösen zu können, ohne Verzögerungen und ohne Klotz am Bein.

Parlamentarische Verfahren, Grundrechte und Gerichte als Klotz am Bein anzusehen, zeugt von einer autokratischen Herrschaftsvision, die nicht mit einem rechtsstaatlichen Europa zu vereinbaren ist. Eine ähnliche Haltung hat sich bereits in Ungarn und Polen durchgesetzt – nicht umsonst arbeitet die Kommission an Verfahren, um undemokratischen Regierungen die Fördermittel zu kürzen. Einen Umbau der autonomen Justiz hat Salvini bereits angekündigt. Nachdem ein sizilianisches Gericht die deutsche Seenotretterin Carola Rackete auf freien Fuß gesetzt hatte, forderte Salvini über die wenige Tage später verabschiedete Gesetzesverschärfung hinaus auch eine Justizreform. Wie er mit Widerstand gegen seine autoritären Bestrebungen umgehen will, ließ er 2013 schon bei seiner Wahl zum Vorsitzenden der Lega durchblicken: „Wer die Lega angreift, muss jetzt Angst haben.“

Gründe, die Lega anzugreifen, gibt es derzeit viele. Das Land steht vor dem finanziellen Abgrund und wird in dem für das Haushaltsgesetz entscheidendem Herbst vermutlich keine durch Wahlen legitimierte Regierung haben. Bei der Entscheidung, welches Ressort der italienische Kommissar in der neu zu bildenden EU-Kommission erhält, wird eine provisorische Regierung im Wahlkampfmodus wenig mitzureden haben. Das hat weitreichende Konsequenzen für die nächsten fünf Jahre, in denen das hochverschuldete Land auf eine gute Zusammenarbeit mit der EU-Kommission und gelegentliche Nachsicht angewiesen sein wird.

Neu kommt nun noch der Russlandskandal der Lega hinzu. Tonaufzeichnungen zufolge hat der Salvini-Vertraute Gianluca Savoini über russische Finanzspritzen in zweistelliger Millionenhöhe verhandelt. Ein Ermittlungsverfahren wegen internationaler Korruption läuft. Weniger bekannt, aber nicht minder beunruhigend sind die Sympathien des ehemaligen Salvini-Pressesprechers Savoini für nationalsozialistische Denker und Devotionalien, die der Investigativjournalist Claudio Gatti in seinem Buch „I demoni di Salvini“ („Salvinis Dämonen“) detailreich dokumentiert hat.

Wie konnte so viel rechter Extremismus in das Land einziehen? Die Menschen in Italien werden schlecht informiert. Die Medien des Landes reden die echten Probleme klein. Die katastrophale finanzielle Lage lasten sie eher dem „Monster der Verschwendung und der Finanzdiktatur“ (Salvini  über die EU) als schlechter Haushaltsführung und Korruption an. Die anderorts endlich allgegenwärtige Klimakatastrophe kommt nicht vor. Wurzel aller Übel ist angeblich die Migration; Flüchtlinge müssen als Sündenbock für vielerlei Fehlentwicklungen herhalten. Durchsetzen kann sich dieses Narrativ in den mittlerweile stramm rechten öffentlich-rechtlichen TV-Sendern genauso wie bei den privaten Mediaset-Kanälen. Noch dominanter sind die sozialen Netzwerke. Nachdem Berlusconi in den neunziger Jahren die öffentlich-rechtlichen Medien zu inhaltsfreien Unterhaltungscontainern degradierte, fiel es der Fünf-Sterne-Bewegung des Internet-Unternehmers Casaleggio leicht, die wütenden Blogbeiträge des Aushängeschildes Beppe Grillo – vormals als begnadeter Komiker im Land bekannt – zur neuen Informationsquelle der italienischen Öffentlichkeit zu machen. Damit bereitete er Matteo Salvini das Terrain, der sich heute über Facebook direkt an das Volk wendet. Meisterhaft bespielt er die gefühls- und klickgetriebenen Algorithmen der Digitalplattformen: Horrornachrichten über Flüchtlinge wechseln sich ab mit niedlichen Tierbildern und ironischen Verleumdungen seiner politischen Gegner.

Für die Europäische Union wäre ein Premierminister Matteo Salvini ein dreifacher Alptraum. Welche Glaubwürdigkeit haben die vielbeschworenen europäischen Werte, wenn nach Polen und Ungarn mit Italien ein weiterer Staat auf einen Demokratiebegriff setzt, der mehr mit der Herrschaft eines plebiszitären Volkstribuns zu tun hat als mit einem modernen Rechtsstaat? Alle Augen werden auf die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerichtet sein, die bei ihrem kurzen Werben um die Gunst des Europaparlaments sicherlich nicht durch ihren Einsatz für Rechtsstaatlichkeit geglänzt hat. Wie hoch ist die Gefahr für die Eurozone, wenn der Premierminister des am höchsten verschuldeten Landes der EU die gemeinsame Währung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet und trotz gravierender Armut für massive Steuersenkungen kämpft? Und was bedeutet es für den Europäischen Rat, wenn ein Regierungschef zum Sprachrohr Putins mutiert? Wer Italien jetzt als exotischen Einzelfall – oder schlimmer – vom hohen Ross herab als typischen Ausdruck südländischer Extravaganz abtut, verkennt den Ernst der Lage. Der italienische Faschismus ging dem Nationalsozialismus voraus, auf den viel belächelten Berlusconi folgte der gefürchtete Trump. Salvini mag ein skrupelloser Opportunist sein, aber er handelt nach einem rechtsextremen Weltbild in modernem Gewand, das er unter anderem mit AfD, Rassemblement National, FPÖ und der ungarischen Regierung teilt. Das sind keine Randgruppen, sondern gut vernetzte und teilweise in Regierungsverantwortung stehende Akteure, die äußerst erfolgreich den Gegenentwurf zu einer repräsentativen Demokratie bewerben, in der alle Menschen den gleichen Wert und die gleichen Rechte besitzen. Auf diese Entwicklung in Italien, einem der Gründungsländer der EU, müssen wir unseren Blick stärker richten und Position beziehen. Die EU braucht schärfere Regeln zur Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Gemeinschaft: zum Beispiel keine europäischen Steuergelder für undemokratische oder korrupte Regierungen, sondern direkte Zahlungen an die Zivilgesellschaft. Jede und jeder von uns kann sich solidarisieren mit von Rassismus betroffenen Menschen. Rassismus ist keine Nebenerscheinung, sondern der Zement, der das rechtsextreme Weltbild zusammenhält. Und nicht zuletzt müssen wir eine vielfältige Informationslandschaft mit Algorithmen für eine demokratische Gesellschaft gestalten – online und offline.

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