2. Mai 2022

Der russische Informationskrieg zeigt, wie gefährlich es ist, keine Regeln für das Internet zu haben

– Gastbeitrag von Inna Mashek, Journalistin aus Kiew –

 

Die russische Militäraggression und die beispiellosen Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine haben die westliche Welt schockiert. Zur gleichen Zeit findet ein Informationskrieg statt, denn Medienpropaganda und Desinformation gehören schon lange zu den wirksamsten Waffen des Kreml. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu selbst bezeichnet die russischen Medien als „eine andere Art von Streitkräften„.

 

Nach vielen Jahren, in denen Russland ein ausgeklügeltes System der Propaganda und Desinformation kultiviert hat, ist das Land unter Putin zu einem Meister der Manipulation geworden, das in der Welt seinesgleichen sucht. Um die politischen Ambitionen des Kreml zu fördern, produziert und verbreitet dieses System Falschmeldungen, die sich auf ein breites Spektrum von Themen beziehen, von Menschenrechten über Umweltpolitik und europäische Geschichte bis hin zum Tod von Zivilist*innen durch russische Bombenangriffe.

 

Der Kreml schafft und verbreitet falsche Informationen und versucht, die Menschen zu verwirren und sie über die tatsächlichen Handlungen Russlands in der Ukraine, Georgien und anderen europäischen Ländern in die Irre zu führen. Da die Fakten nicht auf der Seite des Kreml stehen, erstellen die russischen Geheimdienste gezielt spezielle Websites, die sich als Nachrichtenagenturen ausgeben, Lügen verbreiten und Zwietracht säen. Fehlinformationen sind ein schneller und verhältnismäßig billiger Weg, um die Gesellschaft zu destabilisieren und den Boden für mögliche militärische Aktionen zu bereiten.

 

Ein riesiges Heer von Medienschaffenden arbeitet seit Jahrzehnten an zwei Fronten – im Ausland und für das inländische Publikum. Mit Hilfe der Medien hat Russland die vollständige Kontrolle über den Informationsraum im Land, manipuliert Fakten und versucht, die Aufmerksamkeit von wichtigen Ereignissen und seinen Verbrechen im Ausland abzulenken.

 

Manipulierte Realität

 

In Russland ist es Putin gelungen, eine alternative Informationsrealität am Rande des gesunden Menschenverstands zu schaffen. Mit dem Beginn des groß angelegten Krieges erinnert der Informationsraum der Russischen Föderation an einen surrealistischen Zerrspiegel.

 

In Ermangelung wirklicher sozioökonomischer Errungenschaften des Landes in den vergangenen Jahrzehnten, in denen die meisten Bürger unterhalb der Armutsgrenze leben (mit Ausnahme von Moskau und St. Petersburg), hat der Kreml ein Narrativ geschaffen, das ständig an den „Sieg im Zweiten Weltkrieg“ als große Errungenschaft des russischen Volkes erinnert und von der Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion träumt. Die Kreml-Propaganda hat die Russen in Gegensatz zur westlichen Welt gestellt, die NATO-Länder als „Feinde aller Russen“ bezeichnet und die Vorstellung von der Überlegenheit Russlands gegenüber allen westlichen Ländern vermittelt.

 

Kürzlich analysierte das Zentrum für strategische Kommunikation im Ministerium für Kultur und Informationspolitik der Ukraine den Inhalt des Telegram-Kanals von Russia Today, einem internationalen Sender, der zum Propagandakonzern RIA Novosti gehört. Es wurden Nachrichten analysiert, die drei Tage lang, vom 26. bis 29. April 2022, auf dem RT-Telegram-Kanal in russischer Sprache erschienen. Auf der Grundlage der Analyse von 500 Meldungen wurden vier Hauptthemen ermittelt: die Schuld der Ukrainer, das starke und gute Russland im Krieg mit der Ukraine, die feindlichen Beziehungen zum Westen und Nachrichten aus Russland. Nur 13 Prozent der Nachrichten des Senders sind nicht konfrontativ. Die restlichen 79 Prozent gehören zu den feindseligen Narrativen. Jede fünfte Nachricht ist der Stärke und Güte der russischen Armee im Krieg gegen die Ukraine gewidmet. Ein Drittel (31 Prozent) des gesamten Informationsflusses ist der Schuld der Ukrainer gewidmet.

 

Durch Generationen, die vom Kindergarten bis in die höchsten politischen und kulturellen Kreise mit militärisch-aggressiver Propaganda so erzogen werden, ist Russland zu einem aggressiven Land geworden, in dem die Bürger*innen durch das Fehlen objektiver Informationsquellen, Zensur, Unterdrückung abweichender Meinungen und die Konzentration auf „äußere Feinde“ buchstäblich degradiert wird.

 

Wie unabhängige Umfragen zeigen, unterstützen über 70 Prozent (einige Umfragen sprechen sogar von 80 Prozent) der „einfachen Russen“ den Krieg in der Ukraine, und Putins Beliebtheitswerte bleiben extrem hoch. Selbst manche Russen, die ihr Heimatland vor Jahren verlassen haben und glücklich in anderen Ländern leben, unterstützen Putin.

 

In den (inzwischen gesperrten) sozialen Medien veröffentlichten Russen häufig Beiträge, in denen sie bedauerten, dass Kiew noch nicht besetzt ist und dass „Bandera und die Ukrainer den Tod verdienen“. (Stepan Bandera, ein Führer der ukrainischen nationalistischen Bewegung, wurde 1959 von KGB-Agenten in München ermordet, aber viele Russen, die von der Pro-Putin-Propaganda und den Fake News im russischen Fernsehen die Nase voll haben, glauben ernsthaft, dass es Bandera und seine westlichen Unterstützer sind, die jetzt ukrainische Städte besetzen und bombardieren).

Journalistin Inna Mashek (Foto) ist aus Kiew nach Warschau geflohen.

 

Die russischen Medien schaffen es, mit Hilfe eines Heeres von Internet-Trollen, bezahlten Experten und starker finanzieller Unterstützung jede noch so unglaubwürdige Lüge zu verbreiten. Ein aktueller Bericht des britischen Außenministeriums bestätigt die Bemühungen russischer „Troll-Farmen“, die internationale öffentliche Meinung zu manipulieren.

 

Massentötungen und Folterungen von Zivilisten und Kindern, Massengräber mit Hunderten von ermordeten Leichen, vorsätzliche Zerstörung und Blockade von Städten und Dörfern, Plünderung und Beschlagnahmung von Lebensmitteln – nur wenn man weiß, in welcher Desinformationsblase die Russen seit Jahrzehnten leben, versteht man die Wurzeln des Hasses und das beispiellose Ausmaß der Gewalt russischer Soldaten gegen ukrainische Zivilisten.

 

Werkzeuge russischer Desinformation

 

Die russische Desinformationspolitik basiert auf diesen Säulen: einer lückenhaften Darstellung von Informationen, ständiger Verherrlichung der Tapferkeit der russischen Armee, dem Verschweigen der tatsächlichen Verluste russischer Soldaten und der Widerlegung von Angaben des Verteidigungsministeriums der Ukraine.  Informationen über den Tod russischer Soldaten warden nicht zuerst von russischen Regierungsquellen versöffentlicht, sondern von regionalen Medien oder einfach von Personen, die die Verstorbenen persönlich kannten.

 

Ein Beispiel über das Verwirrspiel mit Informationen, das Zweifel an den wahren Nachrichten sät: Als Reaktion darauf, dass eine russische Bombe im Donezker Schauspielhaus in Mariupol landete, entwarfen russische Propagandisten mehrere Versionen über das Ereignis, die sich gegenseitig widersprachen. Sie sollten das Publikum verwirren und Zweifel säen: „Ist es wirklich so?“

 

Ein anderes Beispiel: Wenn ich bei YouTube auf Russisch „Flüchtlinge“ eingebe, warden mir Beiträge über „das böse Asow“, dass es „die Ukrainer sind, die Mariupol bombardieren“, dass „das ukrainische Militär die Menschen nicht aus der Stadt gelassen hat“ und „sie nach Russland gehen wollten“ gezeigt. Das zeigt, wie aktiv Fälschungen und Fehlinformationen in diesem Krieg eingesetzt werden.

 

Oft ist das verwendete Foto- oder Videomaterial in russischen Fake News nicht vorhanden, stimmt nicht mit den Texten überein oder wurde gefälscht. So verbreiteten russische Medienkanäle beispielsweise die Nachricht, dass Schulkinder in Lemberg ein Hakenkreuz zeigten. Das Foto war jedoch gefälscht und zeigt in Wirklichkeit russische Schulkinder in Penza, die am Flashmob zum Gedenken an den Flug von Jurij Gagarin teilnahmen und sich in Form der „55“ aufstellten.

 

Laut BBC verfügt die russische Regierung über ein riesiges Netz offizieller Twitter-Accounts (mehr als 100): von Auslandsvertretungen oder Botschaften mit einigen tausend Abonnenten bis hin zu Profilen mit mehr als einer Million Abonnenten.

 

Die Fotos, Videos und Beweise aus Bucha, wo russische Soldaten beispiellose Gräueltaten, Vergewaltigungen, Folterungen und Tötungen von Hunderten von Zivilisten begangen haben, wurden von der russischen Propaganda als Fälschung bezeichnet. Das russische Verteidigungsministerium, russische Propagandamedien und Telegram-Kanäle arbeiten aktiv daran, die Taten von Bucha zu rechtfertigen: Media Detector hat 18 Varianten von Desinformationsnachrichten aufgezeichnet. Sie alle zielen darauf ab, Russland zu rechtfertigen und die Ukraine und den Westen zu beschuldigen.

 

Wie die Ukraine mit russischer Desinformation umgeht

 

Die Ukraine widersetzt sich Russland seit acht Jahren. Im Vergleich zur Situation im Jahr 2014 ist die Ukraine heute an beiden Fronten besser vorbereitet: militärisch und informativ. Es gibt in der Ukraine inzwischen eine Reihe von Medien und Social-Media-Kanälen, die russische Desinformation, Manipulation und Fake News aufdecken, indem sie Fakten überprüfen und objektive Informationsquellen für ihre Leser*innen bereitstellen: das Zentrum für die Bekämpfung von Desinformation beim Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, das Zentrum für strategische Kommunikation beim Ministerium für Kultur und Informationspolitik der Ukraine, StopFake, Detector Media und viele mehr.

 

Nach Ansicht des britischen Journalisten und Schriftstellers Peter Pomerantsev ist dieser Krieg anders, er ist ein endloser Informations- und psychologischer Krieg, eine ständige Destabilisierung und eine völlige Ablehnung der Idee der Globalisierung. Im 21. Jahrhundert wird nicht derjenige den Krieg gewinnen, der auf dem Schlachtfeld gewonnen hat, sondern derjenige, dessen Nachrichten mehr Glauben geschenkt werden.

 

Pomerantsev ist der Meinung, dass einer solch mächtigen Propagandamaschine mit groß angelegten Methoden begegnet werden muss: „Was der russischen Gesellschaft fehlt, ist nicht nur eine andere Sichtweise, ein anderer Fernsehkanal. Es fehlt ihnen der zentrale Kern, die Bildung, das Verständnis, die Fähigkeit, rational zu denken und die Beweise kritisch zu bewerten.“

 

Es werden noch viele Jahrzehnte vergehen, bis die Russen begreifen, welche schrecklichen Verbrechen sie in der Ukraine begangen haben. Das wird nur gelingen, wenn die gesamte europäische Gemeinschaft gemeinsam ihre demokratischen Werte verteidigt – auch im Internet.

 

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