Die neue Frauenbewegung für gerechtes Wirtschaften
Wir brauchen eine starke europäische Bewegung, die Ökonomie feministisch denkt und Feminismus ökonomisch. Warum? Weil die Krise uns wie unter einem Brennglas zeigt, wie Frauen benachteiligt werden. Sie leisten einen Großteil der Mehrarbeit zu Hause und verlieren häufiger ihre Jobs, weil ihre Branchen besonders von der Krise betroffen sind. Gleichzeitig werden sie bei den Konjunkturpaketen außer Acht gelassen, indem das Geld vor allem in Branchen fließt, in denen hauptsächlich Männer arbeiten. Gemeinsam können Frauen in Europa viel bewegen – die Italienerinnen machen es vor.
Im Frühling 2020 galt die Arbeit von Frauen plötzlich als systemrelevant. 75 Prozent der Menschen in systemrelevanten Jobs waren weiblich. Sie alle hatten damals die berechtigte Hoffnung, dadurch mehr Wertschätzung zu erfahren. Aber das Gegenteil war der Fall. Heute sehen wird, dass Frauen langfristig das Nachsehen haben, wenn die Wiederaufbauhilfen nicht gerecht konzipiert sind. Der Großteil der Gelder geht nicht an die Frauen, deren Arbeitsplätze verschwinden, sondern an zu über 80 Prozent von Männern dominierte Branchen. Um auf diesen Missstand hinzuweisen, habe ich im Mai 2020 die Kampagne #halfofit gestartet. Sie fordert die Hälfte der Wiederaufbauhilfen für Frauen. In Deutschland fand der Ruf der Frauen nach Gerechtigkeit bisher nur wenig Resonanz, dafür umso mehr in Italien. Dort entstand eine große Frauenbewegung, die mit ihren Kampagnen viel öffentliche Aufmerksamkeit erregte.
Ein Grund für diesen Erfolg ist die Arbeit von Linda Laura Sabbadini, die als Zentraldirektorin des Italienischen Statistikamtes ISTAT dafür sorgt, dass Wirtschaftszahlen auch unter Genderaspekten ausgewiesen werden. Dadurch können die Italienerinnen auf harte Zahlen verweisen: Etwa, dass 70 Prozent der 440.000 zusätzlichen Arbeitslosen des vergangenen Jahres Frauen waren. Oder, dass das Kurzarbeitergeld zu 75 Prozent an Männer ausgezahlt wurde. Mit solchen Zahlen können sie Politik machen – zumal sich Linda Laura Sabbadini selbst in der Bewegung “Half of it – Donne per la salvezza” in Italien engagierte.
In Deutschland wurde erst im März 2021 die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgelegt, die die Ungleichbehandlung belegte. Die meisten Frauen waren zu diesem Zeitpunkt zu erschöpft zum Protestieren oder wurden von Hass im Netz zum Schweigen gebracht. Das berichtete sehr eindrücklich Sonja Lehnert, Bloggerin und Co-Gründerin von “Eltern rechnen ab”, in einem Webinar, das unsere Fraktion Greens/EFA zur Vernetzung von Frauen in Europa organisiert hat. Durch sie wurde deutlich, wie schwer es Frauen oft fällt, sich zu organisieren, wenn sie ohnehin stark belastet sind und wie sie dann ausgebremst und an die Gitterstäbe des Patriarchats gedrückt werden.
Offensichtlich ist auch, dass die vielen prekären und illegalen Beschäftigungsverhältnisse von Frauen als Problem in der Krise besonders deutlich hervortreten. Die vielen Frauen, die putzen, pflegen, als Sexarbeiterinnen arbeiten, scheinselbstständig sind oder sonstwie ausgebeutet werden, sind nicht abgesichert. Die Politik hat zu lange die Augen vor der Präkarisierung der Arbeit von Frauen verschlossen. Das Problem schildert Julia Friedrichs sehr eindrücklich in ihrem lesenswerten Buch „Working Class“.
Es betrifft alle Länder Europas. Auch in Italien gab es nie eine Strategie für das Wachstum der weiblichen Beschäftigung. Die Rollenteilung ist sehr asymmetrisch. Deshalb war es zwar überfällig, dass die EU endlich eine neue Richtlinie „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ erlässt, aber sie allein löst das Problem nicht. Denn die großen Lohndifferenzen liegen nicht innerhalb einer Branche, sondern zwischen den Branchen. Auch Männer in der Pflege verdienen schlecht und Frauen im IT-Bereich verdienen gut. Aber es gibt viel zu wenig Frauen in der Digitalbranche. Und Frauen leisten immer noch das Doppelte an unbezahlter Sorgearbeit. Zeit und Energie, die sie nicht in Erwerbstätigkeit investieren können. Lohntransparenz ist wichtig, wird das Problem aber nicht allein lösen. Wie können wir vielmehr dafür sorgen, dass Frauen in der Wirtschaft gleichberechtigt vertreten sind und immer mitgedacht werden?
Eine erfolgreiche Strategie muss den Zugang der Frauen zu allen Sektoren fördern. Für den Digitalbereich habe ich gemeinsam mit Nakeema Stefflbauer die Konferenz #EUDigitalManifesto ins Leben gerufen, die Vorschläge erarbeitet hat, wie wir die Präsenz von Frauen erhöhen. Die Zeit drängt: Wir können die digitale Geschlechterlücke in der EU jetzt schließen, wenn 20 Prozent der gesamten Mittel aus dem NextGenerationEU-Budget in die Digitalisierung fließen sollen. Frauen müssen davon zu gleichen Teilen profitieren.
Wir brauchen also auf der einen Seite solche Konzepte für bisher männlich dominierte Sektoren. Auf der anderen Seite müssen wir die unentgeltliche Sorgearbeit in die wirtschaftlichen Berechnungen mit einbeziehen. Nur so haben wir die Chance, langfristig Gerechtigkeit herzustellen. Die Frauen in Europa sollten sich jetzt quer durch alle Schichten und über Parteigrenzen hinweg zusammenschließen, um mit einer starken Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaft streiten.