14. Dezember 2020

Der Digital Services Act – Wie Europa den digitalen Marktplatz zurückerobern kann

Das Internet ist der größte Marktplatz für Waren, Nachrichten und Meinungen unserer Zeit. Wer bestimmt die Regeln an diesem Ort? Wer regiert ihn, und wer wacht über demokratische Werte? Die Antwort darauf soll der „Digital Services Act“ geben. Er wird das neue Grundgesetz für Online-Plattformen in Europa. Sein Ziel ist es, endlich starke, transparente Regeln und klare Grenzen für Plattformen zu etablieren.

 

Denn wenige Großkonzerne wie Google, Facebook und Amazon beherrschen heute den Markt. Sie bündeln unverhältnismäßig viel Macht und Kontrolle, am Ende entscheiden sie sogar, wer was wie im Internet äußern oder welches Unternehmen in den Markt eintreten darf. Die Informationen, die sie verbreiten, sind für viele Menschen Grundlage ihrer politischen Entscheidungen und Meinungen, aber die Regeln, nach denen sie verbreitet werden, sind intransparent, sie sind lukrativen Geschäftsmodellen unterworfen und für eine demokratische Gesellschaft so nicht akzeptabel. Deshalb geht die EU nun in eine harte Auseinandersetzung mit den Plattformen und stellt das bisherige System in Frage.

 

Diese fünf Säulen können die digitalen Grundrechte der EU-Bürger*innen stärken:

 

Mehr Transparenz: Hass und Hetze, Verleumdung und Desinformation richten einen großen Schaden an, weil sie sich viral im Internet verbreiten – beschleunigt durch die Geschäftsmodelle der großen Digitalunternehmen. Denn mit extremen und polarisierenden Inhalten können sie ihre Nutzer*innen länger auf den Seiten halten und das bedeutet mehr Werbeeinnahmen. Wir wollen die Plattformen zur Offenlegung ihrer Empfehlungsalgorithmen verpflichten. Wir werden nicht länger akzeptieren, dass eine Black Box unsere gesellschaftlichen Diskurse steuert. Mehr Transparenz ermöglicht eine Analyse der Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs und unsere Demokratie. Sie ist auch die Grundlage, um Plattformen zur Rechenschaft zu ziehen, und die Aufsicht durch Behörden und Rechtsbehelfe für betroffene Gruppen und Nutzer*innen möglich zu machen.

 

Weniger Manipulation: Surfen, chatten und Kontakte knüpfen sind im Internet nicht umsonst – wir bezahlen mit unseren Daten. Alle Informationen über Standorte, Interessen, sexuelle Orientierung und Verweilzeiten landen in Echtzeit bei Tausenden von Unternehmen, die damit ihr Werbegeschäft betreiben, uns unbemerkt kategorisieren und manipulieren. Der Fachbegriff für dieses Geschäft heißt „Ad Tech“. Die großen sozialen Netzwerke sind zuallererst Werbeunternehmen: 2019 verdiente Facebook mit Werbung fast 69 Milliarden Dollar. Das entspricht 98 Prozent der gesamten weltweiten Einnahmen von Facebook. Bei Google machte der Werbemarkt mit fast 134 Milliarden Dollar gut 70 Prozent des gesamten Geschäfts aus.
Diese allgegenwärtige Praxis, Daten zu sammeln und zusammenzuführen ist auch deshalb so problematisch, weil sie auch dazu führt, dass Hetze, Fehlinformationen und Vorurteile zielgerichtet an dafür anfällige Zielgruppen verbreitet werden können. Die Algorithmen mit ihren knallharten Geschäftsinteressen spielen Informationen so aus, dass sie viel Aufmerksamkeit erregen und Menschen viel Lebenszeit auf den Plattformen verbringen. Das funktioniert am besten, wenn sie unsere stärksten Emotionen wie Angst und Wut ansprechen. Somit verstärkt der Werbemechanismus die Polarisierung der Gesellschaft.
Der Digital Services Act ist die Chance, ein Verbot von Micro-Targeting und verhaltensbasierter Werbung durchzusetzen. Google und Facebook kontrollieren große Teile dieses Ad Tech-Marktes – auf Kosten der europäischen Presse. Dabei zeigt beispielsweise der niederländische öffentliche Fernsehsender NPO, wie man erfolgreich ohne das Ausspähen und Verfolgen von Menschen auskommen und auf kontextbasierte Werbung umstellen kann. Umso unverständlicher ist es, dass die EU-Kommission entgegen dem Willen des Europaparlaments kein Verbot für personalisierte, also ausspionierende Werbung zu planen scheint, obwohl nur die Internetgiganten davon profitieren.

 

Interoperabilität: Online-Dienste sollten ihre Programmier-Schnittstellen öffnen, damit die Nutzer*innen auch Nachrichten, die Freunde zum Beispiel bei Facebook posten, über einen anderen Dienst empfangen können. Niemand wäre dann gezwungen, mehrere Messenger-Apps zu installieren oder die sozialen Netzwerke nach der Anzahl der dort vorhandenen Kontakte auszuwählen, sondern könnte auf Datenschutz oder Bedienungsfreundlichkeit setzen. Der Wechsel zu alternativen Diensten würde es allen Nutzer*innen ermöglichen, personalisierter Werbung und Manipulation auf Facebook, YouTube und Twitter aus dem Weg zu gehen – ohne auf den Komfort moderner Kommunikation zu verzichten.

 

Starke Nutzer*innenrechte: Der Umgang mit legalen und illegalen Inhalten ist bislang so unklar geregelt, dass die Plattformen in der Grauzone willkürlich entscheiden, was gelöscht wird und was online bleibt. Ein Beispiel: Die Accounts der niederländische NGO „Women on Waves“, die sich für Frauenrechte und körperliche Selbstbestimmung einsetzt, werden regelmäßig gesperrt, während manche strafbare Hassbotschaften unbemerkt stehen bleiben. Deshalb brauchen wir klare Regeln, mehr Aufsicht und klare Prüfverfahren, wie die Plattformen mit illegalen Inhalten auf der eine Seite und den Beschwerden von Nutzer*innen, deren Inhalte zu Unrecht gelöscht wurden, umgehen sollen. Zentral wird sein, dass wir stärker differenzieren zwischen Absendern, Themen und der Schwere des Verstoßes. Jede Meldung eines potenziellen Verstoßes sollte künftig mit URL, Datum und Uhrzeit erfolgen und eine persönliche Erklärung beinhalten, dass die Angaben gewissenhaft gemacht wurden. Für sie muss gelten: My content, my rights. Wir wollen das Recht auf freie Meinung stärken.

 

Social-Media-Councils: Als ein Modell für die öffentliche Debatte schlage ich so genannte „Social Media Councils“ vor, die ähnlich wie die Bürgerräte in Irland mit Menschen aus der Zivilgesellschaft sowie mit Experten für Meinungsfreiheit und Demokratie, für Technologie und Vertreter*innen von Gruppen, die von Hass und Hetze besonders betroffen sind, besetzt werden. Sie können öffentliche Debatten anstoßen, gute und schlechte Praktiken der Plattformen thematisieren und Handlungsempfehlungen für die Politik aussprechen.
Das ist das Gegenteil dessen, was die Plattformen selbst als vermeintliche Lösung anbieten: interne Ethikräte. Aber wie unabhängig kann ein interner Ethikrat bei Facebook sein, wenn er vom Vorstand und den Geschäftsinteressen abhängt? Das wäre die zementierte Privatisierung von Recht und Ethik.

 

Unser gesamter gesellschaftlicher Diskurs in der Netzwelt darf nicht länger von kommerziellen Interessen gesteuert sein. Mit dem Digital Services Act haben wir die Chance, die digitale Welt nachhaltig zu verändern und digitale Grundrechte der EU-Bürger*innen zu stärken. Die Frage ist: Wird die EU-Kommission den Mut haben, Regeln vorzuschlagen, die wirklich einen Unterschied machen oder ergibt sie sich dem Lobbying von Big Tech und bleibt lieber beim Status Quo?

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