Meine Einschätzung zum Koalitionsvertrag
Liebe Freund*innen!
Es ist schon etwas merkwürdig: Ich bin gerade in den USA und spreche mit vielen Menschen, die hier für ihre Demokratie kämpfen und sich der immer größer werdenden Macht der Oligarchen und Autokraten entgegenstellen. Und gleichzeitig wird in Deutschland der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD präsentiert, bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob die Koalitionäre wirklich den Ernst der Lage verstanden haben.
Fangen wir an mit dem, was fehlt: Wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Stattdessen übernehmen die Koalitionäre die rechten Narrative und wollen den Menschen weiß machen, dass wenn man nur die Migration einschränkt und das Bürgergeld einschränkt, alles besser wird. Doch genau das ist der Fehler. Ein bezahlbares Leben, Klimageld oder gerechte Besteuerung auch von großen Vermögen, die von den Krisen ganz besonders profitieren? Fehlanzeige. Selbst mit den 500 Milliarden, die wir Grüne zusätzlich ermöglicht haben, fehlt dieser Koalition der Blick nach vorne. Das Verständnis, dass die Strategie der Sündenböcke gescheitert ist, sondern es Zeit für Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit ist, fehlt komplett. Das ist der falsche Weg, den auch die US-Politik zu lange beschritten hat. Mit den Konsequenzen, die ich hier in Chicago gerade live sehe und wir alle spüren.
Positiv dagegen ist der starke Fokus auf digitale Souveränität und die Förderung von europäisch integrierten und Wertschöpfungsketten für Schlüsselindustrien, von Rohstoffen über Chips bis zu Hard- und Software mit der Stärkung des Eurostacks. Unklar ist allerdings der Weg dorthin. Denn bis jetzt verweigert die EVP bei den entsprechenden Verhandlungen im Europaparlament sowohl das Gebot für die öffentliche Verwaltung, prioritär bei europäischen Unternehmen einzukaufen, also auch jegliche Investitionen (ohne die beispielsweise im Bereich Chips nicht gehen wird) und die Nennung des Eurostacks. Schon im September 2024 habe ich im Europaparlament mit führenden Köpfen zu dem Thema ein parteiübergreifendes Event organisiert (hier zum Nachschauen). Es bleibt zu hoffen, dass jetzt mit dem Druck aus Berlin auf Worte auch konkrete Taten statt einer Verweigerungshaltung folgen. Ich bleibe dran.
Mit der Unterstützung offene Schnittstellen, offene Standards und Open Source sorgt der Koalitionsvertrag für Kontinuität mit den von der Ampel angestoßenen Projekten.
Aus dem klaren Bekenntnis zu DSA/DMA ergibt sich die Verpflichtung der Bundesregierung, die Europäische Kommission aufzufordern, diese Gesetze konsequent umzusetzen und nicht als Verhandlungsmasse in den Zollverhandlungen mit den USA zu nutzen. Hoffnung macht dabei die Benennung von Desinformation als systemisches Risiko. Damit muss die Bundesregierung auf eine Ermittlung im Rahmen des DSA und eine Abschaffung des systemischen Anreizes zur Verbreitung von Desinformation und Propaganda im Netzen drängen. Dabei müssen Empfehlungsalgorithmen im Fokus stehen. Hier blockiert die CDU-geführte EU-Kommission bisher. Der DSA-Artikel 34 zur Risikobewertung und systemischen Risiko, ein scharfes Schwert gegen demokratie-gefährdende Algorithmen, ist nur wegen unserem Grünen Druck so stark und umfassend und seitdem kämpfe ich dafür, dass die Kommission ihn endlich scharf schaltet.
Auch der Einsatz für ein für ein Verbot unlauterer Geschäftspraktiken wie Dark Patterns und süchtig machenden Designs muss bedeuten, dass die Bundesregierung bei Kommission für die Vorlage eines starken Gesetzesentwurfs plädiert und sich im Rat und bei der EVP-Fraktion dafür einsetzt.
Ich freue mich besonders, dass die Entwicklung offener europäischer Plattformmodelle begrüßt wird. Ich hoffe, dass dieses Bekenntnis bei konkret anstehenden Maßnahmen auch in die Tat umgesetzt wird.
Sehr kritisch zu betrachten ist die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. Keine Aussage gibt es hingegen zur Chatkontrolle, was darauf hindeutet, dass eine Zustimmung zum aktuell im Rat vorliegenden Entwurf geplant ist. Das wäre eine fatale Gefährdung des Rechts auf vertrauliche Kommunikation.
In Sachen Überwachung geht es grundsätzlich in die falsche Richtung: mehr Gesichtserkennung im Netz und auf der Straße sind gerade in Zeiten des Aufstiegs autoritärer Regierungen hochgefährlich. Genauso fehlt eine Aussage zu den von der Europäischen Kommission geplanten Hintertüren für verschlüsselte Daten, die nach einhelliger Einschätzung von IT-Expert*innen die Sicherheit des gesamten IT-Ökosystems gefährden.
Ihr seht also beim Thema Desinformation und digitale Souveränität: Das gesteigerte öffentliche Interesse an diesen Themen und der Druck aus der Zivilgesellschaft wirkt!
Doch klar ist aus den Erfahrungen der letzten Koalitionen aus CDU, CSU und SPD auch: Dass das auch alles wirklich so kommt und nicht die nächsten vier Jahre stecken bleibt, das ist nicht ausgemacht.
Deswegen ist es jetzt entscheidend, was die neue Koalition wirklich tut. Daran werden wir sie messen.
Aus Chicago kann ich Euch sagen: Die Lage ist viel zu gefährlich, um jetzt vier Jahre in Kommissionen und Arbeitsgruppen zu verbringen.
Mit entschlossenen Grüßen,
Eure Alexandra Geese