25. November 2022

Bedrückende und beeindruckende Stationen meiner Reise in die Ukraine

Es ist Mitte November 2022, unser Zug fährt über Nacht von Premzyl, einer Kleinstadt im Osten Polens, nach Kiew. Die Liegewagen sind voll, viele ukrainische Frauen sind unterwegs. Ich sitze mit einer Gruppe Grüner Abgeordneter aus dem Europaparlament und aus nationalen Parlamenten in Deutschland, Finnland und dem britischen House of Lords in Vierer-Abteilen. Wir wollen uns selbst ein Bild von der Lage machen, mit ukrainischen Gesprächspartner*innen aus Zivilgesellschaft, Regierung und Kommunen. Wir wollen über die dringendsten Handlungsbedarfe sprechen und ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine setzen. 

 

Im Dunkeln erreichen wir um 6 Uhr morgens Kiew und werden von einem Minibus des ukrainischen Parlaments, der Rada, abgeholt. Er hält vor zahlreichen zerbombten Gebäuden, Wohnhäusern, die grundlos zerstört wurden, um die Menschen in der Hauptstadt zu terrorisieren. In einem Park wurde der Kinderspielplatz bombardiert, an anderer Stelle die Büros des Energieversorgers. Das Ziel der russischen Angriffe wird schon in der ersten halben Stunde unseres Besuchs klar: die ukrainische Zivilgesellschaft, deren mutiger Widerstand gebrochen werden soll.

Die sind die Stationen unseres Besuchs:

 

Freitag, 8 Uhr: Wir treffen den stellvertretenden deutschen Botschafter und einem Vertreter der EU-Delegation. Thema sind Waffenlieferungen, der Kandidatenstatus der Ukraine und die sieben erforderlichen Schritte für einen EU-Beitritt der Ukraine 

 

Freitag, 9:00 Uhr: Beim Treffen mit Vertreter*innen der ukrainischen Zivilgesellschaft sprechen wir über Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und einen grünen, nachhaltigen Wiederaufbau. Die Ukraine hängt massiv von Atomkraft und fossilen Energieträgern ab, bisher stammen nur sieben Prozent der Energie aus erneuerbaren Quellen. Die NGOs geben gute Hinweise zur Korruptionsbekämpfung: Finanzielle Unterstützung sollte nicht allein an die Zentralregierung gehen, sondern auch an die Kommunen. Sie begrüßen Partnerschaften mit Kommunen aus der EU, die im praktischen Miteinander ukrainische Städte und Gemeinden stärken können. Demokratische Transparenz und starke Beteiligung der Zivilgesellschaft sind weitere wichtige Faktoren. Ich finde es sehr beeindruckend, wie viele konkrete Vorschläge die Zivilgesellschaft mitten im Krieg für den grünen Umbau des Landes hat. 

 

Freitag, 10.30 Uhr: In der Rada, dem ukrainischen Parlament, treffen wir Abgeordnete aus verschiedenen Ausschüssen. Ein Vertreter des Energieausschusses erklärt die aktuell schwierige Situation. Die russischen Truppen zerstören gezielt die Energie-Infrastruktur. Trotz der bisher bestehenden Überkapazitäten und der laufenden Reparaturen wird es für die Ukraine immer schwieriger, die eigene Bevölkerung mit Strom und Heizung zu versorgen. Ersatzteile werden knapp und sind nicht einfach zu beschaffen. Abgeordnete des Umweltausschusses fordern die globale Einführung des Ökozids als Verbrechen. Denn dieser Krieg bringt nicht nur unermessliches Leid für die Menschen, sondern richtet auch enorme Umweltschäden an. Ein Abgeordneter der Opposition weist außerdem kritisch auf die Einschränkungen der Meinungsfreiheit hin, die aktuell in der Ukraine stattfinden. TV-Sender der Opposition können ihr Programm nicht mehr ausstrahlen und das neue Mediengesetz wird zu Kontrollen im Internet führen. Das wird definitiv ein Thema für mich. Eine Ukraine, die den EU-Beitritt anstrebt, muss demokratisch sein. 

 

Freitag, 13 Uhr: Mittagessen mit einem Vertreter der Aufsichtsbehörde für Nuklearsicherheit. Die Situation im Atomkraftwerk Saporischschja, das unter russischer Kontrolle steht, ist weiterhin ernst. Tatsächlich steht Europas größter Reaktor auch an dem Wochenende unseres Besuchs wieder unter Beschuss, die Gefahr für den Austritt von Radioaktivität ist groß. Ein Beweis mehr, dass Atomkraft nie die Lösung ist. 

 

Freitag, 14:00 Uhr: Treffen mit den ukrainischen Grünen. Auch sie bitten uns um Unterstützung für Waffenlieferungen, weisen auf russische Kriegsverbrechen und den Ökozid hin. Aber sie legen den Finger auch in die Wunde der Demokratiedefizite. Nach ihrer Aussage kostet allein die Registrierung, um als Partei für die Wahlen antreten zu dürfen, 150.000 Euro. Diese demokratischen Hürden müssen im EU-Beitrittsprozess abgebaut werden. Starke Grüne sind gerade in der Ukraine wichtig! 

Freitag, 15 Uhr: Besuch im Verteidigungsministerium in Kiew. Ukrainische Truppen haben erfolgreich besetzte Gebiete zurückerobert, besonders der Rückzug russischer Truppen aus Cherson ist ein großer Erfolg, aber die Lage vor Ort ist katastrophal nach den Morden an Zivilisten und durch die zerstörte Infrastruktur. Berichten zufolge haben die abziehenden Truppen alles mitgenommen, von Krankenwagen und medizinischen Geräten bis hin zu Waschbecken aus Wohnungen. Umso motivierter kämpfen die Ukrainer*innen um ihr Land. Für sie steht unumstößlich fest: Sie werden diesen Krieg gewinnen.   

 

Freitag, 16:00 Uhr: Treffen mit einem Büroleiter des Präsidenten Selenskyj. Hier brummt die Heizung, die im Parlament spärlich und in anderen Gebäuden aus Energiespargründen gar nicht funktioniert. Wir besprechen die Finanzierung der Ukraine durch die EU, für die ich gemeinsam mit dem Kollegen Rasmus Andresen zuständig bin. 18 Milliarden Euro wird die Ukraine aus der EU erhalten. Diese Unterstützung wird in Kiew ausdrücklich begrüßt. Für den Wiederaufbau der fast täglich bombardierten Energie-Infrastruktur wird die Summe jedoch nicht reichen. Dafür werden von einzelnen Ländern finanzierte Flagship-Projekte erforderlich sein. 

 

Freitag, 17:30 Uhr: Das bewegendste Treffen findet am Abend statt. Wir sprechen mit ehemaligen Kriegsgefangenen und den Angehörigen von Menschen, die noch in russischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Die Menschen ergreifen nach und nach das Wort. Zuerst die Frauen, die oft seit Monaten den Kontakt zu ihren Männern verloren haben. Sie berichten über Gefangene, die schwer krank sind, die 40 kg Gewicht verloren haben, die mit Elektroschocks gefoltert werden. Darunter sind auch viele Zivilisten, die unrechtmäßig in Haft sitzen. Nur langsam trauen sich auch die Männer zu Wort. Sie beginnen zögerlich, die Folter zu beschreiben, die sie am eigenen Leib erlitten haben. Ihnen bricht die Stimme weg. Sie flehen uns um Hilfe an, um die Menschen zu befreien, die noch von Russland gefangen gehalten werden. Es ist ein Moment der Hilflosigkeit für uns als Abgeordnete im Angesicht der Grausamkeit Putins. 

 

Samstag, 8:30 Uhr: Eine Ökonomin der Denkfabrik „Institute for economic research and policy consulting“ berichtet über die derzeitige wirtschaftliche Situation der Ukraine. Das Bruttoinlandsprodukt ist aufgrund der Angriffe um 46 Prozent zurückgegangen, die häufigen Stromausfälle und die schwierige Logistik, besonders beim Export, bremsen die Unternehmen trotz der starken Motivation aus. Die Inflation liegt bei 26 Prozent. Gut zu hören ist jedoch, dass zwischen 2015 und Kriegsbeginn viel Transparenz geschaffen wurde, um die Korruption zu bekämpfen. Der gesamte Haushalt und die öffentliche Beschaffung wurden auf öffentlich zugänglich und gut verständlichen Websites dargestellt. Das fordern wir in der EU für unsere Fördermittel noch vergeblich. Nach dem Krieg muss die Ukraine an diese vorbildliche Transparenz anknüpfen können.  

 

Samstag, 9:30 Uhr: Fahrt nach Butscha, Irpin und zum Flughafen Hostomel 

Die 60.000-Einwohner-Stadt Irpin war vor dem Krieg eine Sporthochburg, jetzt ist das Stadion zerbombt und die erfolgreiche Sportschule genauso wie alle anderen Schulen und Kindergärten zerstört. Der Bürgermeister sagt: „Am härtesten ist es für die Kinder. Sie haben keinen Ort mehr, wo sie ihre Zeit verbringen können.“ Zum Wiederaufbau der Schulen sind Investitionen nötig, die kommen in Kriegszeiten hier nicht an. 

Das Bild zeigt unsere Gruppe mit der stellvertretenden Bürgermeisterin von Butscha vor der Kirche, hinter der Hunderte von Opfern der russischen Besatzung begraben wurden.

 

Butscha: Der Name des Ortes ist zu einem Synonym für russische Kriegsverbrechen geworden, die Amnesty International dokumentiert. Vor der Kirche begrüßen uns die stellvertretende Bürgermeisterin und der orthodoxe Priester, der die ermordeten Menschen, die auf den Straßen, in den Gärten und in den Kellern der beschaulichen Kleinstadt gefunden wurden, hinter der Kirche beerdigt hat. Während der Gräueltaten lagen die drei Friedhöfe der Stadt noch in der Reichweite des russischen Militärs. Nach der Befreiung von Butscha wurden diese Kriegsverbrechen dokumentiert und die sterblichen Überreste umgebettet. Die Bilder, die diesen Prozess in der restaurierten Kirche dokumentieren, sind bedrückend. Spätestens hier wird die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer klar, den Krieg zu gewinnen. Sie haben erlebt, was Putins Truppen den Menschen antun. Wir wären gut beraten, die gleiche Entschlossenheit an den Tag zu legen, um keinen Schritt vor grausamen Diktatoren zu weichen.      

 

Die dritte Station ist der Flughafen Hostomel. Dort verhinderte eine Gruppe unerfahrener junger ukrainischer Soldaten wenige Stunden nach Putins Ankündigung einer “Spezialoperation” am 24. Februar den Angriff russischer Helikopter. Es gelang den russischen Truppen zwar, den Flughafen am Ende einzunehmen, aber er konnte nicht mehr für die geplante Offensive gegen Kiew verwendet werden. Wir sprechen mit einem der Soldaten, die den Flughafen im Februar verteidigt haben und stehen vor den Überresten des größten Transportflugzeugs der Welt, das von dem ukrainischen Unternehmen Antonov am Tag nach dem Angriff nach Polen ausgeliefert werden sollte.   

 

Samstag 13.30: Wir stoppen bei der EU Advisory Mission, einer kleinen Beratungsstelle der EU für die ukrainische Regierung. Sie berichten über die politischen Entwicklungen und über ihre Arbeit im Bereich Dokumentation von Kriegsverbrechen, Geschlechtergerechtigkeit und Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte. Ich nehme mit: Es gibt eine starke Frauenbewegung in der Ukraine, mit der ich mich vernetzen werde.  

 

Samstag, 15 Uhr: Zurück im Hotel treffen wir den ehemaligen Verteidigungsminister des Landes, der heute noch als Berater an der Militärstrategie des Landes mitarbeitet. Er ist zuversichtlich, dass die Ukraine den Krieg bis Ende nächsten Jahres gewonnen haben wird. 

Ich hoffe sehr, dass er Recht behält.   

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