Eine persönliche Geschichte vom Krieg in Europa
Meine Mitarbeiterin Stefanie Kaufmann hatte vor fast 20 Jahren ein gemeinsames Journalist*innen-Stipendium mit Inna aus Kiew. Es war ein Programm der deutschen Bundesregierung zur Förderung von Freiheit und Verantwortung in den Medien. 24 junge Journalist*innen verbrachten drei inspirierende Wochen gemeinsam in Workshops, jede*r kam aus einem anderen Land. Seitdem verfolgen sie intensiver, was in den Ländern der anderen passiert, mit den Medien und staatlichen Eingriffen, weil sie einen persönlichen Bezug zu Ländern wie Afghanistan, Kirgistan, China oder Sierra Leone gewonnen haben.
Niemand hätte je damit gerechnet, dass es so bald wieder einen Krieg mitten in Europa geben würde und dass Inna fliehen müsste – erst nach Lviv, jetzt nach Warschau. Dies ist ihre Geschichte, was sie befürchtet und was sie hofft.
„Mein Name ist Inna Mashek, ich wurde 1981 in Kiew geboren. Ich begann meine Karriere als Radiojournalistin im Jahr 2000 bei der Nationalen Rundfunkgesellschaft der Ukraine, und nach über 12 Jahren im Journalismus begann ich, für ukrainische und ausländische NGOs zu arbeiten. Ich glaube, ich habe meinen Beruf gewählt, weil ich schon immer das Interesse an Menschen, ihrem Leben und ihren Motiven hatte, das alle Journalist*innen verbindet.
Nach meiner Elternzeit arbeitete ich eine Weile freiberuflich und dachte darüber nach, mir eine Vollzeitstelle zu suchen. Am 24. Februar hatte ich zwei Vorstellungsgespräche online geplant, die beide am selben Tag abgesagt wurden, weil der Krieg begann. In der Nacht hörte ich in unserer Wohnung die ersten Explosionen, aber wie die meisten von uns hoffte ich, dass es schnell vorbei wäre.
Am 25. Februar wurden wir wieder von Explosionen geweckt und beschlossen, die Wohnung zu verlassen. Ich hatte nur 20 Minuten Zeit, um die Sachen für uns Drei zu packen. Wie die meisten Ukrainer glaubten wir, dass wir nur für eine Woche weggehen würden.
Wenn ich an unsere Wohnung denke, die wir vor drei Jahren gekauft und so viel Geld, Zeit, Energie und Gedanken in jedes Detail investiert haben, um uns eine sichere Zukunft aufzubauen, werde ich traurig. Wird sie noch auf uns warten? Werden wir wieder in diese Wohnung nach Kiew zurückkehren? All die kleinen Dinge, aus denen unser Leben besteht, unsere Lieblingsbücher, Kleidung und Bilder, was ist mit ihnen? Zu Hause war eines meiner Hobbys die Begrünung aller Räume. Ich hatte über 20 Zimmerpflanzen, große und kleine, in verschiedenen Größen und Formen. Wahrscheinlich sind sie inzwischen alle vertrocknet, weil es niemanden gibt, der sie gießt. Der riesige Wohnblock mit über 500 Wohnungen steht jetzt fast leer, und die 15 bis 20 Familien, die noch dort wohnen, verbringen die meiste Zeit in der Tiefgarage, die als Luftschutzkeller dient.
Wenn ich im Vergleich dazu an die Menschen in Mariupol denke, schäme ich mich, weil ich mein Zuhause bedauere. Mehr als 300 Erwachsene und Kinder starben in einem Luftschutzkeller des Theaters in Mariupol und verhungerten eine Woche lang ohne Wasser und Nahrung unter russischem Bomben- und Granatenbeschuss, der eine Evakuierung der Menschen aus den Trümmern verhinderte. Ich denke an Sumy, Charkiw, Bucha, Irpen, Zhytomyr und viele andere Städte und Dörfer, in denen die Ukrainer unter massiver Gewalt, Folter, Vergewaltigungen und Plünderungen durch russische Soldaten leiden.
Wir fuhren von Kiew in die Westukraine und blieben mehrere Tage in Lviv, der schönen Stadt nahe der polnischen Grenze, in der Hoffnung, dass wir die Ukraine nicht verlassen müssten. Jeden Tag und jede Nacht hörten wir Sirenen und mussten uns zusammen mit 30 anderen Menschen in einem improvisierten Luftschutzkeller im selben Gebäude verstecken, in der Hoffnung, dass die Raketen nicht in Lviv einschlagen.
Beim ersten Mal, als wir zum Luftschutzkeller liefen, hatte meine 4-jährige Tochter Angst und begann zu weinen. Nach dem 3. oder 4. Mal hatte sie sich daran gewöhnt und fragte immer wieder, wie es sein kann, dass jemand uns töten will, obwohl er uns gar nicht kennt?
Nach der zweiten Bombardierung von Lviv beschlossen wir, nach Polen zu gehen. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich den Polen für all ihre Freundlichkeit, Hilfe und Unterstützung für die Ukrainer bin. Sie haben alles getan, um uns allen zu helfen, von Lebensmitteln und humanitärer Hilfe bis hin zu kostenlosem Transport und Wohnungen. Wenn man jetzt durch Warschau geht, kann man hier und da ukrainische Sprache hören. Aber man kann die Ukrainer auch ohne Worte leicht erkennen, an ihrem Blick, der verloren und ängstlich ist und versucht herauszufinden, was sie tun oder wohin sie gehen sollen.
„Ist das ein Geschäft?“, fragt ein dreijähriges Mädchen, das seine Mutter am humanitären Hilfspunkt zweifelnd anschaut. „Ja, es ist eine Art Laden“, antwortet ihre Mutter etwas verlegen, während sie in einer großen Plastiktüte mit Secondhand-Kleidung wühlt, um Kleidungsstücke für ihre Familie zu finden. Auf der Flucht vor dem Krieg hatten viele Menschen nicht einmal Zeit, das Nötigste mitzunehmen.
Jede/r von uns hatte Pläne, wir standen mitten im Leben, und plötzlich wurde alles unterbrochen und auf Pause gestellt. Nun sitzen wir zwischen unserem vergangenen Leben und der Zukunft fest, ohne genaue Pläne. Niemand weiß, wie lange wir hier verweilen werden. Sollen wir uns von unserem bisherigen Leben trennen und für längere Zeit hier unterkommen? Sollen wir die Kinder in polnische Schulen bringen, uns in Polen anmelden und einen langfristigen Job suchen? Sollen wir eine Wohnung für einen Monat oder ein Jahr mieten? Diese Ungewissheit bestimmt das Leben von Millionen Ukrainern in Polen, Deutschland, der Slowakei, überall.
Über allem schwebt die Hoffnung auf baldigen Frieden. Ich glaube fest daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt und dass die Ukraine in diesem seltsamen, schrecklichen, unvernünftigen Krieg bestehen wird. Einfach weil wir Ukrainer sind und niemals ein Teil Russlands sein wollen. Und weil wir so viele Freunde in der ganzen Welt haben. Zusammen können wir es schaffen!