11. September 2025

Nein, die Lage ist nicht gut.

Liebe Freund*innen!

Eigentlich wollte ich Euch eine Rundmail zur gestrigen State of the European Union schicken, also der zentralen jährlichen Rede der EU-Kommissionspräsidentin, mit einem Fokus auf digitalpolitische Themen. Doch mit dem mutmaßlichen russischen Drohnenangriff auf Polen gestern und die Ermorderung des rechtsextremen US-Vordenkers Charlie Kirk hat sich die Lage der Europäischen Union noch einmal verschlechtert.

Darüber müssen wir gleich reden. Doch schauen wir erst auf die Rede zurück. Für mich der zentrale Satz:

“Wir leben in einer Welt voller imperialer Ambitionen und imperialer Kriege. Eine Welt, in der Abhängigkeiten gnadenlos als Waffen benutzt werden.” 

Im Original: „We live in a world of imperial ambitions and imperial wars. A world in which dependencies are ruthlessly weaponised.“

Diese laut ausgesprochene Erkenntnis ist neu und ein wichtiger Bewusstseinswandel. Viel zu lange hat auch die EU-Kommission nicht offen ausgesprochen, wie stark unsere Abhängigkeiten nicht nur bei der Industrie und der Energie sind, sondern auch gerade im digitalen Bereich, wo die US-amerikanischen und chinesischen Plattformen längst die volle Kontrolle haben.

Doch das Problem von der Leyens ist: Die Erkenntnis ist da. Sie handelt aber nicht danach. 

Statt sich mit einem verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien unabhängig zu machen, stehen im US-EU-Handelsdeal 750 Milliarden Euro für schmutziges US-Gas und Öl. Statt die eigene Chips-Produktion und die technologischen Lieferketten in Europa zu schaffen und zu diversifizieren, kündigt von der Leyen 40 Milliarden € Investition in US Chips an. Statt gegen Google und Co. hart vorzugehen, verbietet sie ihrer Kommissarin Ribera eine Pressekonferenz zu den Strafen gegen Google. Die scharfen Schwerter DSA und DMA lässt sie gefährlich unternutzt. “Buy European” reicht hinten und vorne nicht. Die Liste der Versäumnisse und Zögerlichkeiten ist lang, und ich habe sie Euch unten angefügt.

Aber jetzt will ich über die USA sprechen.

Mit der Ermorderung des rechtsextremen Charlie Kirk könnte in den USA jetzt der Moment gekommen sein, von dem viele Menschen in den USA bei meinen Besuchen geredet haben – vor wenigen Monaten noch als abstrakte Gefahr. Ein zweiter Bürgerkrieg. Doch die Reaktion von Trump auf die Ermordung von Kirk weist eindeutig in diese Richtung: Die Demokraten sind schuld. Kein Wort zu den erst vor zwei Monaten von einem rechten Trump-Anhänger ermordeten demokratischen Politiker:innen. Mit der Stationierung von Truppen (des umgetauften “Department of War”) in den demokratisch-geführten Städten L.A., D.C. und der vorbereiteten Wiederholung dessen in Chicago, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Schon jetzt ist in die USA kein verlässlicher Partner für Europa mehr. Und das wird nicht besser.

Wenn von der Leyen in ihrer Rede die Allianz mit den USA als “alternativlos” bezeichnet und mit Milliarden-Deals die Abhängigkeit erhöht, ist das brandgefährlich.

Wie gefährlich sehen wir in Polen. Es gibt wenig Zweifel, dass der russische Drohnenangriff auf Polen gestern eben kein Versehen war, sondern ein gezieltes Testen der Reaktion von EU und NATO. Wer das Buch von Prof. Carlo Masala: „Wenn Russland gewinnt” noch nicht gelesen hat, sollte es jetzt tun. Denn während europäische Staaten protestieren, kommt aus Washington: Nichts. Beim nächsten Mal werden es dann vielleicht nicht ein paar Drohnen, sondern hunderte sein und sie “aus Versehen” auf ein Kraftwerk oder NATO-Flughafen fallen.

In ihrer Rede hat von der Leyen gefragt, ob wir als Europäer*innen den Mut haben, den Kampf um die Zukunft Europas zu führen. 

Liebe Freund*innen. Ich habe ihn. Und wir sollten ihn alle haben. Denn auch wenn die Lage nicht gut ist. Europa hat das Geld, die Technologie, Gesetze und die Menschen für eine unabhängige und freie Zukunft. Jetzt braucht es den politischen Willen. Daran arbeiten ich, meine Kolleg:innen, im Europaparlament und darüber hinaus, jeden Tag. Und ich weiß, ihr auch. Geben wir nicht auf, sondern lasst uns mutig sein.

Mit entschlossenen Grüßen,

Eure Alexandra Geese

P.S.: Ein kleiner Akt des Mutes wäre es meine Petition “Freiheit für Fakten” zu unterschreiben: https://actionnetwork.org/forms/freedomforfacts/

Zum Weiterlesen: Meine Pressemitteilung: SOTEU: „Abhängigkeiten sind Waffen –  Eurostack schützt Europas Demokratie“

Brüssel, 10. September 2025. Mit ihrer Rede zur Lage der Union 2025 hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den „Kampf um Europas Zukunft“ beschworen. Sie warnte vor einer Welt mit imperialen Kriegen, gnadenlosen Machtphantasien und Abhängigkeiten, die rücksichtslos als Waffen eingesetzt werden. Europas Souveränität stellte sie dabei ins Zentrum: militärisch mit neuen Verteidigungsinitiativen, technologisch durch weniger Abhängigkeit in Schlüsselbereichen und demokratisch durch den Schutz vor Desinformation.

Alexandra Geese (MdEP, Grüne/EFA) begrüßt diesen Kurs, mahnt jedoch, dass Europas Zukunft ebenso vom Schutz vor digitaler Einflussnahme und einem eigenständigen Eurostack abhängt. Europas technologische Achillesferse kann nur mit entschlossenen Investitionen und wirksamer Regulierung wirklich geschlossen werden.

Ukraine: Verteidigung braucht auch gesellschaftlichen Willen  

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verspricht neue Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich und eine Drohnenallianz mit der Ukraine.

Alexandra Geese warnt:

„Genauso wichtig wie die militärische Verteidigung Europas sind die Herzen und Köpfe der Menschen. It‘s easier to swing an election than to win a war. US-amerikanische und chinesische Digitalplattformen verschaffen der in russischen Desinformationsfabriken produzierte Propaganda eine Reichweite, mit der seriöse Medien nicht mithalten können.”

“Die Algorithmen digitaler Plattformen verstärken russische Desinformation und Propaganda in einem Ausmaß, das die öffentliche Meinung in Europa beeinflusst und den Verteidigungswillen Europa schwächen kann.”

“Die Unterminierung der Demokratie durch Desinformation und Misstrauen ist genauso gefährlich wie ein militärischer Angriff. Wenn Menschen die Notwendigkeit nicht sehen, die Ukraine oder vielleicht eines Tages das Baltikum zu verteidigen, dann sind alle Verteidigungsanstrengungen vergebens. Deshalb darf die Ukraine nicht auf Druck der US-Regierung gegen den Digital Services Act ausgespielt werden, der unser einziges Bollwerk gegen die Einflussnahme der Tech-Plattformen und ihre enorme Verbreitung von Propaganda ist.“

Abhängigkeiten sind Waffen – öffentliche Beschaffung als Hebel für Souveränität

Von der Leyen warnte in ihrer Rede: „We live in a world of imperial ambitions and imperial wars. A world in which dependencies are ruthlessly weaponised.“ Sie versprach, Europa unabhängiger zu machen und kündigte ein „Buy European“-Kriterium in der öffentlichen Beschaffung an. Alexandra Geese freut sich, dass ihre Forderung aus dem Bericht des Industrieausschusses aufgegriffen wird. Aber sie fordert: Aus Worten müssen jetzt verbindliche Entscheidungen werden.

Alexandra Geese:Europa kann Tech – braucht aber Investitionen. Wer seine digitale Infrastruktur nicht selbst kontrolliert, verliert politische Handlungsfreiheit – und das ist sicherheitspolitischer Selbstmord. Aber ein Lippenbekenntnis reicht nicht. Warum investieren wir dann 40 Milliarden in US-Chips, anstatt unsere eigene Industrie zu stärken? Europa muss endlich aufhören, diese fatalen Abhängigkeiten zu vertiefen.“

Öffentliche Beschaffung darf keine Abhängigkeit finanzieren – sonst bezahlen wir mit Steuergeld unsere digitale Schwäche. Wenn die Kommission es ernst meint, muss sie das im Cloud and AI Development Act und in der Vergaberichtlinie klar verankern. Buy European darf nicht nur ein Schlagwort sein, sondern der Standard für Zukunftstechnologien.“

Ohne Eurostack bleibt die Achillesferse Europas offen

Von der Leyen stellte in ihrer Rede den Cloud and AI Development Act, neue AI-Gigafactories und Supercomputer als Motoren für Innovation in den Mittelpunkt. Sie verband dies mit dem Versprechen, dass Europa „die Technologien und Energien kontrollieren“ müsse, die seine Zukunft bestimmen.

Alexandra Geese: „Das ist ein wichtiger Schritt – aber er reicht nicht. Ohne einen vollständigen Eurostack bleibt Europa digital erpressbar – und das ist die eigentliche Achillesferse unserer Demokratie. Ein Eurostack ist kein Buzzword, sondern eine End-to-End-Architektur: Chips, energieeffiziente Rechenzentren, souveräne Cloud-Stacks, offene Standards, KI-Trainingskapazitäten und klare Lizenzmodelle – alles nachprüfbar CO₂-arm. Nur wenn wir die gesamte Wertschöpfungskette absichern, gewinnen wir digitale Souveränität.“

Regulatorische Souveränität 

Von der Leyen betonte: „Whether on environmental or digital regulation – we set our own standards, we set our own regulations.“ Sie ruft zum Schutz der Demokratie auf und kündigt mehr Durchsetzung an.

Alexandra Geese:DSA und DMA sind keine obskure Digitalregulierung, sondern unsere Antwort auf die Meinungsdiktatur großer Plattformen. Bei X, TikTok, Meta oder Google sehen wir täglich, wie Plattforminhaber über Reichweite und Sichtbarkeit entscheiden. Es darf nicht länger Facebook, Google oder TikTok überlassen bleiben, die Spielregeln unserer Demokratie zu bestimmen. Die Europäische Kommission darf keine Rücksicht mehr auf die Erpressungsversuche durch die autoritäre US-Regierung nehmen. Wir warten seit Monaten auf wichtigen Entscheidungen zu der Manipulation in Rumänien und im Bundestagswahlkampf“.

Ohne fairen Werbemarkt keine freie Presse

Von der Leyen kündigte ein European Centre for Democratic Resilience an, verwies auf News Deserts und zusätzliche Mittel für unabhängige Medien. Sie skizzierte damit eine demokratiepolitische Agenda gegen Manipulation und Desinformation.

Alexandra Geese: „Demokratieschutz heißt auch faire digitale Märkte. Nur wenn Publisher wieder wettbewerbsfähige Einnahmen erzielen, stärken wir Pressefreiheit und die finanzielle Basis unabhängiger Medien in Europa.“

Alexandra Geese: „Die 2,95 Mrd. €-Strafe gegen Google war notwendig – entscheidend sind jetzt strukturelle Maßnahmen im Adtech-Bereich. Ein Werbe-Monopol ist nicht kompatibel mit Medienvielfalt und Pressefreiheit. Keine öffentliche Finanzierung der Presse kann und sollte die Werbeeinnahmen ersetzen, die das Google-Monopol unserer Presse entzieht.”

Nicht alternativlos: Globale Demokratien als Gegengewicht zu US-Big Tech

Von der Leyen betonte, dass die transatlantische Partnerschaft alternativlos sei. Alexandra Geese hält dagegen: Europa muss sich gegen die Angriffe der zunehmend autokratisch auftretenden US-Regierung und der Tech-Oligarchie wehren. Dazu könnte die EU gezielt mit Demokratien zusammenarbeiten, die eigene digitale Modelle entwickeln.

Alexandra Geese: „Wenn wir Demokratie und digitale Souveränität verteidigen wollen, dürfen wir das nicht allein tun. Wir brauchen strategische Allianzen mit Ländern wie Brasilien, das mit dem Marco Civil da Internet Maßstäbe für Nutzerrechte gesetzt hat; mit Indien, das einen eigenen Digital Public Stack für Zahlungssysteme und Identität aufgebaut hat; oder mit Südkorea und Taiwan, die führend bei Halbleitern und Cybersecurity-Standards ist. Solche Bündnisse schaffen Gegengewichte zu den Erpressungsversuchen autoritärer Staaten und zu den Abhängigkeiten von US-Big Tech.“

„In dieser geopolitischen Lage ist es fahrlässig, weiter zuzuschauen, wie die Trump-Regierung die freie Welt erpresst. Die enge Zusammenarbeit von demokratischen Ländern ist jetzt entscheidend. Gegen Erpressung hilft nur Stärke – und die haben wir als Europäische Union gemeinsam mit anderen Ländern wie Brasilien, Kanada, Australien, Indien, Südkorea, Taiwan, Japan und vielen anderen.”

 

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