4. März 2022

Mein Praktikum in Zeiten von Krieg und Corona

Habt ihr schon einmal diese Werbeanzeigen bekommen? Warum wirbt der Meta-Konzern auf meinem privaten Twitter-Feed für die Wichtigkeit von Facebook für die EU?

 

Weil ich seit Oktober als Praktikantin im Europaparlament bei Alexandra Geese gearbeitet habe. Ich hatte mich schon zwei Mal um genau dieses Praktikum beworben. Ich wollte in Alexandras Büro arbeiten, weil sie in ihrer Bewerbungsrede bei der Listenaufstellung 2018 zur Europawahl genau die Themen angesprochen hat, die mich als junge Frau beschäftigten: die mangelnde Diversity in der Tech-Branche und die Konsequenzen für die Funktion von Algorithmen und im Endeffekt unseres gesamten Internets.

 

Ich bin 1997 geboren und somit Teil der sogenannten „GEN Z“-Generation. Wir haben die Geburt von Sozialen Netzwerken, wie wir sie heute kennen, in der Mittelstufe erlebt. Die Mittelstufe, genau das Alter, in dem wir selbstständig genug waren, um heimlich einen Facebook- und Tumblr-Account zu erstellen und genau das Alter, in dem Jugendliche zu jung sind um zu verstehen, dass #thinspiration oder der ständige Vergleich mit anderen die Beziehung zu Essen, dem eigenen Körper und schlussendlich uns selbst bis in Erwachsenenalter beschädigt.

 

Niemand hat uns gezeigt, wie Social Media funktioniert und niemand hat uns über die Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt. So unvorbereitet stürzten wir uns einen Großteil des Tages in eine Welt, dessen Regeln wir nicht kannten. Regeln, die nicht vom demokratisch legitimierten Staat gemacht wurden, sondern von Tech-Konzernen in den USA. Regeln, die es Facebook erlauben, mein Verhalten so zu tracken, dass sie mir ab dem Moment, in dem ich mich das erste Mal ins EP-WLAN eingeloggt habe, Tag und Nacht ihre Lobby-Botschaft anzeigen. Die Auswirkungen unserer Internetnutzung wurde mir zum ersten Mal während der Debatte um die DSGVO bewusst, das hat mein Interesse am Thema Digitalpolitik geweckt. Was mein Interesse an der Digitalpolitik dagegen gebremst hat, war der Umstand, dass ich meistens die einzige Frau in der Debatte war und ich nicht einmal einen Background im Tech-Bereich hatte, sondern „nur“ Sozialwissenschaften studiere.

 

Ich habe Alexandra als einzige rühmliche Ausnahme wahrgenommen – bis ich mein Praktikum in Brüssel anfing und in diesen fünf Monaten mehr Frauen kennengelernt habe, die in diesem Bereich Beeindruckendes leisten als in meinem gesamten vorigen Studium und Engagement. Heute denke ich: Das Angebot ist da, aber wir haben ein Wahrnehmungsproblem. Wir ignorieren zu oft die Expertinnen zum Vorteil von Experten.

 

Die Zeit in Brüssel war politisch äußerst spannend für mich. Sie begann während der Koalitionsgespräche und der Zusammenkunft der neuen Regierung in Deutschland. Im November berichtete die Whistleblowerin Frances Haugen, wie Facebook seine immensen Gewinne über das Wohlergehen seiner Nutzer*innen stellt, unsere Gesundheit und Sicherheit schädigt und unsere Demokratien bedroht. Ich erlebte den Abschluss der Verhandlungen über den Digital Service Act im Dezember und die Annahme von Alexandras Antrag gegen bildbasierte sexuelle Gewalt auf Pornoplattformen. Zu dieser Zeit war die Pandemie eine ständige Begleiterin: wöchentliche PCR-Tests, später tägliche Selbsttest, Homeoffice-Pflicht und Quarantäne. Von meinem WG-Zimmer in Brüssel konnte ich die Helikopter sehen und ich konnte hören, wie Impfgegner das Europaviertel verwüsteten.

 

Über Silvester veröffentlichte die Kommission ihren Vorschlag zur neuen Taxonomie, ein ebenso wichtiges Thema, und im Januar stimmte das Parlament final über den Digital Service Act ab und die Verhandlungen im Trilog starteten. Außerdem starb der Präsident des Europäischen Parlaments David Sassoli plötzlich und Roberta Metsola wurde als neue Präsidentin gewählt. Sie ist erst die dritte Frau in diesem Amt. Im Februar spitzte sich die Russland-Ukraine-Krise so zu, dass wir nun einen Krieg erleben, den wir nicht für möglich gehalten hätten. Deshalb verabschiede ich mich in einer aufgewühlten, unruhigen Stimmung, obwohl die zurückliegende Zeit so gut war.

 

Rückblickend war die Zeit als Praktikantin im Europaparlament eine der lehrreichsten Zeiten meines Lebens und ich kann es jeder Person weiterempfehlen.

 

Cylia Ungar (24) studiert im Master Sozialwissenschaft. Sie ist grünes Mitglied im Rat der Stadt Bochum und engagiert sich für Digitalpolitik.

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